Finanzmärkte vs. Realwirtschaft: Die große Abkopplung
Carsten Roemheld: Hallo und herzlich willkommen zum Fidelity Kapitalmarkt Podcast. Mein Name ist Carsten Roemheld und in dieser Folge widmen wir uns der Frage, ob die Börsen im Moment ein wenig den Boden unter den Füßen verloren haben, wie es manche Beobachter meinen. Ich freue mich sehr, dass ich hierzu meinem Kollegen Andreas Telschow begrüßen darf, der uns als Verantwortlicher für den Privatkunden-Vertrieb bei Fidelity einen sehr guten Eindruck vermitteln kann, wie unsere Direktkunden die aktuelle Lage beurteilen und wie sie agieren.
Carsten Roemheld: Hallo Andreas.
Andreas Telschow: Hallo Carsten.
Carsten Roemheld: Infolge der Covid-19-Pandemie ist die Wirtschaft im Lauf des zweiten Quartals weltweit massiv eingebrochen. Die OECD erwartet für dieses Jahr weltweit einen Rückgang um sechs Prozent. Abgesehen von der Zeit der Weltkriege hat es seit hundert Jahren keinen vergleichbaren Einbruch mehr gegeben. Auch an den weltweiten Börsen geht es derzeit turbulent zu und nach einem ebenfalls historischen Crash Mitte März haben sich die Kursindizes von den Einbrüchen weitgehend erholt. An der Börse herrscht scheinbar Zuversicht, bei Verbrauchern und Unternehmen regiert die Verunsicherung. Aber wie passt das zusammen? Hat die Finanzwirtschaft den Kontakt zur Realwirtschaft verloren? In diesem Podcast wollen wir dieser Frage nachgehen, und zwar in drei Schritten.
Erstens: Warum koppelt sich das Geschehen an den Börsen gerade so sehr vom Geschehen in der Wirtschaft ab?
Zweitens: Welche kurz- und mittelfristigen Folgen hat diese Entwicklung?
Und drittens: Wie sollten Investoren reagieren?
Zunächst noch ein paar Befunde zur aktuellen Lage: Im Euroraum fiel das BIP im ersten Quartal um 3,8 Prozent, in Großbritannien um zwei Prozent. Die US-amerikanische Industrieproduktion lag im April 15 Prozent niedriger als vor einem Jahr. Die Einzelhandelsumsätze sind in den USA im vergangenen Monat sogar um 22 Prozent gefallen. Die Arbeitslosenzahlen sind in den letzten Wochen dort massiv gestiegen und Analysten rechnen inzwischen damit, dass die Gewinne der im S&P vertretenen fünf hundert größten börsennotierten Unternehmen, in diesem Jahr um deutlich mehr als 20 Prozent sinken werden. Aber das Kursbarometer des S&P kletterte bis vor wenigen Tagen in schnellen Schritten nach oben.1 Und aktuell, also per 18. Juni, liegt er nur noch rund dreieinhalb Prozent im Minus im laufenden Jahr.
Andreas Telschow: Und in den vergangenen Tagen verbreitete sich nun die Furcht vor einer möglichen zweiten Welle an Covid-19 Infektionen aus China hinausgehend. Das wiederum schreckt in erster Linie Börsianer ab. Neue Fälle schüren offenbar weltweit die Angst vor einer neuen, zweiten Infektionswelle. Und das erschütterte zuletzt auch die Aktienmärkte in Deutschland, selbst wenn sich noch keine direkten realwirtschaftlichen Folgen erkennen lassen.
Carsten Roemheld: Warum driften nun die Finanz- und die Realwirtschaft immer wieder so sehr auseinander? Was auf den ersten Blick so aussieht, stimmt aber nur bedingt. Aktienkurse basieren auf einer Erwartung an die Zukunft und die Konjunkturdaten sind ein Rückblick. In der Regel beziehen sie sich auf die Vergangenheit. Und gerade in Krisenszenarien laufen die Aktienmärkte daher deutlich voraus. Aber selbst als Indikator einer künftigen Konjunkturentwicklung scheitert die Börse oft. Der Ökonom und Nobelpreisträger Paul Samuelson hat einmal gescherzt, dass Einbrüche an den US-Börsen neun der letzten fünf Rezessionen korrekt vorhergesagt hätten. Die Börse reagiert eben schnell und dadurch oft zu stark. Die Börse ist auch nicht repräsentativ für die gesamte Realwirtschaft. Das vergisst man ja schnell. Große Teile der Wirtschaft, sei es der Einzelunternehmer oder der familiengeführte Konzern, sind eben nicht an der Börse vertreten. Dafür machen aber einige Mega-Konzerne wie Apple und Google einen riesigen Teil der großen Indizes aus.
Andreas Telschow: Was eindeutig auseinanderdriftet ist die Zuversicht der Verbraucher und auch die Zuversicht der Anleger.2 Das überrascht aber nicht. Die großzügigen Liquiditätsspritzen der Regierungen und Notenbanken gegen die Krise haben ja eben genau diesen Zweck: die Märkte, trotz der großen Unsicherheit in der Wirtschaft, zu stützen. Unser Fidelity-CIO Steve Ellis sagt selbst: Viele Anleger schauen gerade nicht mehr auf die Wirtschaftsdaten, sondern nur noch auf die Konjunkturmaßnahmen.
Carsten Roemheld: Ja, diese Maßnahmen sollen zwar letztendlich auch die Realwirtschaft stützen, zunächst haben sie aber nur die Vermögenspreise stark erhöht und die Vermögenspreise haben sich eben stark erholt dadurch. Das Geschehen an den Börsen spiegelt diesen Erstrundeneffekt jedenfalls sehr deutlich wider.3 Währenddessen kämpfen die Unternehmen aber mit extremen Liquiditätsproblemen und miserablen Quartalsergebnissen, weil ihnen eben in schneller Folge sowohl Käufer als auch Lieferketten weggebrochen sind. Die Erholung in diesem Sektor wird daher länger dauern als die der Aktienkurse. Die enorme Geldflutung der Notenbanken wird also zunächst an den Kapitalmärkten investiert. Trotzdem sind viele institutionelle Anleger nicht an Bord, weil sie gerade vor oder in der Krise Positionen abgebaut und Cash aufgebaut haben. Interessanterweise scheint das im Gegensatz zu dem zu stehen was wir von den Privatinvestoren gehört haben. Andreas kannst du uns vielleicht kurz skizzieren, welche Verhaltensweisen du vonseiten unserer Kunden in der Krise beobachten konntest.
Andreas Telschow: Ja, Carsten, das sehen wir also auch bei unseren Privatkunden. Es scheint als hätten viele Anleger die Vorteile des langfristigen Investierens verinnerlicht. Die Reaktionen auch zu Zeiten des kräftigen Börsenrutsches, die waren meist besonnen. Viele haben in dieser Panikphase nichts unternommen und ihre Positionen gehalten, was ja auch ein ganz guter Ratgeber in Krisenphasen ist. Was wir aktuell aber nach Beruhigung der Märkte sehen ist, dass viele Anleger wieder investieren, oftmals schrittweise und selektiv, aber auch Sparpläne werden wieder stärker ausgeweitet. Carsten, an der Stelle stellt sich mir die Frage, ob die Liquiditätsspritzen nicht an der richtigen Stelle eventuell ankommen. Die Börsen profitieren ja, die Unternehmen leiden weiterhin unter Engpässen. Wie passt das zusammen? Wie kann das sein? Wie passt also die Liquiditätsklemme mit der Geldflut zusammen, mit der die Notenbanken ja nun schon seit einigen Jahren, also seit 2008, die Märkte versorgen.
Carsten Roemheld: Kurz gesagt, der Transmissionsmechanismus ist defekt. Die Realwirtschaft reagiert kaum noch auf Impulse der Notenbanken und dafür gibt es mehrere Gründe. Die Geschäftsmodelle der Banken, die ja als verlängerter Arm der Geldpolitik quasi das billige Geld in der Realwirtschaft ausreichen, die geraten immer mehr in Bedrängnis. Viele Banken tun sich schwer damit die Kreditversorgung sicherzustellen, gerade weil sich dieses Geschäft für sie immer weniger rechnet.4 Da sind vielleicht eine kleine Ausnahme die Kreditgarantien, die sich gerade eben dargestellt haben in der Krisensituation, die die Banken ja eben nicht beachten müssen. Und zugleich ist die aktuelle Lage so unsicher und unbekannt für die Marktteilnehmer, dass die Risikobewertung und die Entscheidungsfindung problematisch wird und bleibt. Diese Krise muss aber mit den Banken gelöst werden, was zum Beispiel in der Finanzkrise schwieriger war, da damals gerade die Banken in Schieflage geraten sind. Nullzinsen oder sogar negative Zinsen führen eben auch zu einer massiven Fehlallokation der Mittel, Stichwort Zombie-Unternehmen. Wo keine Zinsen mehr existieren, können sie auch die Lenkungsfunktion beim Investieren nicht mehr erfüllen, die Zinsen fallen also als Risikomesser zunehmend aus. Es ist schlicht zu viel Geld vorhanden, relativ zu den profitablen Investitionsmöglichkeiten in der Realwirtschaft. Und der Rest verbleibt dann in der Finanzwirtschaft und bläht eben die Finanzmärkte auf. Ein weiterer Faktor, wenn wir uns mal stärker ins Inland orientieren und auf die Verschuldungssituation schauen, ist die Tatsache, dass den Unternehmen hier zur Krisenbewältigung hauptsächlich Fremdkapital angeboten wird. Was sie aber tatsächlich benötigen würden, ist eine Stärkung der Eigenkapitalbasis mit den entsprechenden Anreizen für Eigenkapitalgeber und Eigenkapitalnehmer. Hier wird aber auch, vor allen Dingen, Fremdkapital steuerlich begünstigt. Es gibt noch einen Zusatzfaktor, der die Abkopplung der Finanzwirtschaft von der Realwirtschaft begünstigt. Das immense Wachstum der passiven, automatisierten und auch regelbasierten Anlagestrategien. Andreas, was kannst du uns denn zu dem Thema aus deinen Beobachtungen schildern?
Andreas Telschow: Ja, Carsten, wir beobachten bei unseren Kunden, dass ETFs und auch passive Produkte immer mehr im Fokus stehen, wogegen langjährige Kunden bei uns eigentlich eher in aktive Fonds investieren. Man muss wissen, wir haben viele sogenannte „Selbstentscheider“ als Kunden und sehen hier, dass viele Neukunden stärker auf die passiven Produkte auch ETFs setzen. In vielen Medien wird ja auch genau das Thema beworben. Wer sich heute also informieren will kauft sich beispielsweise die „Finanztest“. Der findet da vor allem ETF-Empfehlungen, hängt natürlich auch mit den Kosten zusammen, aber mit der Zeit stellen die Anleger dann oft fest dass auch ein Mix aus passiven und aktiven Fonds Sinn machen kann, und wir stellen heute fest, dass der Anteil aktiver Fonds bei unseren Kunden im Lauf der Zeit wesentlich größer ist als der der passiven. Und wenn man das jetzt mal aus der Sicht des Gesamtmarktes betrachtet, dann verändern ja passive und automatisierte Strategien eben genau die Mechanismen der Preisbildung an den Kapitalmärkten, und zwar fundamental. Kurz gesagt, je mehr Algorithmen den Handel dominieren umso stärker hängt die Preisbildung ja auch von einer Eigenlogik ab. Also vom Verhalten der anderen Computer, die Kursbewegungen rein zahlengetrieben auslösen, ohne sich eben inhaltlich mit der Entwicklung eines Unternehmens zu befassen. Auch wenn jetzt noch unklar ist, ob und wie stark passive Anlageprodukte wie eben ETFs in der aktuellen Corona-Krise die Kursentwicklung beeinflussen, zeigen Daten doch ganz klar, dass Marktschwankungen durch den Boom der passiven Strategien steigen und weniger vorhersehbar werden können.5 Somit erfasst also der Herdentrieb auch immer größere Segmente des Anlageuniversums, und zwar ohne einen Bezug zur Unternehmensrealität.
Carsten Roemheld: Ja, kommen wir jetzt mal zu einer möglichen Folge der Abkopplung von Finanz- und Realwirtschaft, denn wenn die Liquidität sich in der Finanzwirtschaft aufstaut, dann wachsen dort die Gefahren einer Blasenbildung. Insbesondere in den Märkten, bei denen eine ohnehin beschränkte Liquidität vorliegt. Auf Dauer droht in der Realwirtschaft durch die Geldschwemme an den Märkten sogar mehr Ungemach als Nutzen, weil dadurch steigende Staatsschulden kreiert werden, die zusätzlich zu einer steigenden Steuerlast führen könnten. Auch eine strengere Regulierung ist zu befürchten. Alleine über Wachstum kann diese Last wohl nicht mehr bewältigt werden. Und schließlich ist und bleibt der Einfluss der Politik und der Notenbanken auf das reale Wirtschaftsleben begrenzt. Sie werden auf lange Sicht nicht alle Unternehmen retten können, denn Liquidität alleine kann keine fehlenden Cashflows ersetzen. Und umgekehrt verzeichnen jetzt schon einige Unternehmen ein deutliches Umsatzwachstum, etwa durch steigende Nachfrage nach digitalen Dienstleistungen. Die Krise produziert also auch in der Realwirtschaft jetzt schon Gewinner. Kommen wir zum letzten Thema: Was können Investoren in dieser Lage also tun? Anleger müssen immer beides im Blick behalten: Die Dynamik der Börse und die der Realwirtschaft, denn auf mittelfristiger Basis wird sich bemerkbar machen, dass der Wiedereinstieg am Markt ab den Tiefpunkten im März teilweise so undifferenziert war, wie der Abverkauf. Im März verkauften Anleger Papiere durch die Bank weg, jetzt sind die Märkte an dem Punkt, wo sie getrieben von den großen Massen an Liquidität alles kaufen was billig erscheint. Darunter sind auch einige Unternehmen, die auch über die Pandemie hinaus Probleme haben dürften. Zunächst ist es eher unwahrscheinlich, dass Angebot und Nachfrage in der Realwirtschaft alleine durch immer neue Unterstützungsangebote sehr schnell wieder anziehen, sodass wir eben schon eine breit angelegte Erholung der Unternehmensgewinne bald sehen werden. Es gilt weiterhin, die Gewinner und Verlierer des aktuellen Marktgeschehens differenziert und auf Einzelwert-Basis zu betrachten, so wie es zum Beispiel im Bereich der Technologie und Digitalisierung auch Verlierer geben wird, so werden einzelne Unternehmen auch in der Touristik- und Freizeit-Branche durch die veränderte Wettbewerbssituation künftig Marktanteile gewinnen.
Andreas Telschow: Ich glaube es ist für Anleger in dieser Lage überaus sinnvoll sich einen Informationsvorsprung zu verschaffen. Sie sollten also weniger auf das große Geschehen an den Märkten schauen, als vielmehr versuchen Einzeltitel im Detail zu verstehen und eben die Gewinner von morgen zu identifizieren. Dabei können beispielsweise auch Ratings neue Relevanz gewinnen. Niedrige Bewertung können gewisse Sicherheitsmargen bieten und überall dort, wo sich ein höherer Grad an Unsicherheit auch im Preis niedergeschlagen hat. Einzeltitelauswahl und eben auch aktives Management gewinnen in diesem Umfeld an extremer Relevanz. Selbst wenn eine zweite Infektionswelle kommen sollte und der Konjunkturverlauf eher eine W-, anstatt eine U-förmigen Entwicklung nehmen sollte, bieten sich jedoch Chancen für informierte Investoren.
Carsten Roemheld: Das kann ich nur bestätigen, denn obwohl die Renditeaussichten ausgehend von den aktuellen Index-Ständen in den kommenden Monaten vielleicht nicht mehr so rosig sind wie zuvor, mit aktiven Anlageentscheidungen lassen sich sehr wohl weiterhin noch Renditen erzielen und hier gilt es zu analysieren, zu differenzieren und Marktungleichgewichte mutig auszunutzen. Das soll es für heute gewesen sein. Vielen Dank, Andreas, für deine tollen Einsichten. Vielen Dank allen Zuhörern für Ihr Interesse. Ich freue mich sehr auf das nächste Mal und ich hoffe, dass Sie dann wieder dabei sind. Machen Sie es gut und vor allem bleiben Sie gesund.
1 https://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/marktberichte/dax-ausblick-kommen-jetzt-die-rueckschlaege-an-den-aktienmaerkten/25912120.html
2 https://morningconsult.com/2020/05/12/analysis-consumer-confidence-wall-street-main-street-fall/
3 https://www.handelsblatt.com/finanzen/maerkte/marktberichte/dax-aktuell-dax-mit-der-meistgehassten-rally-aller-zeiten-leitindex-schliesst-3-9-prozent-im-plus/25882208.html
4 https://www.finews.ch/news/finanzplatz/41437-thomas-gitzel-notenbanken-schluepfen-in-eine-fragwuerdige-rolle
5 https://www.reuters.com/sponsored/article/stock-market-more-volatile